1895 gründete Ludwig Rinn die Zigarrenfabrik Rinn & Cloos (R&C) (Autor: Werner Rinn)
Der Aufstieg der Tabakindustrie zum größten Industriezweig für viele Jahrzehnte in Gießen und Umgebung begann mit der Gründung einer Pfeifentabakfabrik im Jahre 1812 von Georg Philipp Gail in Gießen. Gail stammte von Dillenburg, wo seine Vorfahren bereits Rauchtabak herstellten. In Hessen fand er bezüglich der Tabaksteuer und des Tabakmonopols günstigere Bedingungen als in dem unter Napoleon besetzten Großherzogtum Berg, zu dem Dillenburg damals gehörte. Ab dem Jahr 1788 wurde in Hamburg und Bremen mit der Herstellung von Zigarren begonnen. Dies lag daran, dass in deren Häfen die Auslandstabake per Schiff ankamen. Nachdem Georg Philipp Gail zunächst nur Rauchtabak hergestellt hatte, nahm er 1840 die Zigarrenproduktion auf, da die Zigarre sich immer größerer Beliebtheit gegenüber dem Pfeifenrauchen erfreute. Die Zigarrenindustrie zog bald auch in Heuchelheim ein. Von 1856 bis 1890 wurden auf dem Windhof von der Fa. Braubach und Kuhl Zigarren hergestellt. Am 8. Juni 1895 gründete Ludwig Rinn unter dem Namen Rinn & Cloos einen Betrieb zur Herstellung von Zigarren. Teilhaber war Commerzienrat Heinrich Cloos, der jedoch keinerlei Einfluss auf die Leitung des Unternehmens nahm und bereits 1917 wieder ausschied. Die offene Handelsgesellschaft wurde im Jahre 1920 in eine Familien-Aktiengesellschaft umgewandelt. Alle Aktien blieben im Familienbesitz. Ludwig Rinn, geb. 17.3.1870, war der Sohn eines Heuchelheimer Landwirts und Holzhändlers. Rinn erlernte das Zigarrenmachen bei der Firma Busch und Mylius, die sich in 1877 in Heuchelheim niedergelassen hatte. Das ehemalige Fabrikgebäude der Fa. Busch und Mylius in der Gießener Str. 64 wird heute zu Wohnzwecken genutzt und ist im Volksmund immer noch unter der Bezeichnung „alte Fabrik“ bekannt. Bereits 1899 ging seine Lehrfirma Busch und Mylius an die noch junge Firma Rinn & Cloos über.
Begonnen wurde mit 60 Mitarbeitern und es begann eine Entwicklung, die für die Tabakbranche Deutschlands beispiellos war. Bereits 1927 wurden rd. 3200 Arbeitnehmer beschäftigt. Gepflegt wurde besonders die mittlere und bessere Fabrikation. Verarbeitet wurden vornehmlich Sandblattdecken, d.h. die untersten Blätter der Tabakpflanze, die am ersten reifen und besonders gut im Geschmack und der Bekömmlichkeit sind. Auch die 1907 in Thüringen hinzugenommene Pennalfabrikation - das ist die Herstellung des Wickels ohne Zuhilfenahme von Formen – trug zu einem immer größeren Ruf des Fabrikats R&C bei, das in fast keinem entsprechenden Spezialgeschäft in Deutschland fehlte. Bekannt und beliebt waren die R&C-Zigarrenserien „Deutsche Einheit“, „Stahl & Eisen“, „Königswürde“ als feine Sumatra-Zigarren und als Brasil das Sortiment „Prima Nora“. Auch Zigarillos wurden in verschiedenen Sorten hergestellt. Bei den Einweihungsfeierlichkeiten für ein neues Sortiergebäude und neue Verwaltungsräume im Dezember 1933 konnte verkündet werden, dass in 43 Herstellungsbetrieben und 5 Sortierfabriken annähernd 5000 Arbeiter und Angestellte beschäftigt werden. Diese Zahl erhöhte sich im Jahre 1936 auf ca. 6000 Betriebsangehörige. Das Unternehmen stand damit an der Spitze der deutschen Zigarrenfabrikation. Anfangs wurden in erster Linie Männer beschäftigt, die später beim Bau weiterer Filialen in den Nachbardörfern als Aufseher eingesetzt wurden. Das änderte sich jedoch alsbald, nachdem die Verantwortlichen merkten, dass die Frauen für die Zigarrenproduktion mehr Fingerfertigkeit besaßen. Durch die Möglichkeit der Tätigkeit im Stück- bzw. Akkordlohn waren die Frauen nicht an eine feste Arbeitszeit gebunden. Zusätzlich bestand die Möglichkeit der Heimarbeit, denn nicht jede Frau konnte ganztätig ihrem Haushalt und meist auch der Landwirtschaft fernbleiben.
Ein Beweis für die Zufriedenheit, die die meisten Arbeitnehmer/innen bei R& C fanden, waren die zahlreichen Betriebsangehörigen, die 25, 40 und 50 Jahre dem Betrieb die Treue hielten. Durch die zahlreichen Zweigfabriken (in 1938 waren es 50) brachte man die Arbeit und damit entsprechende Verdienstmöglichkeiten zu den Menschen auf den Dörfern. Die Fürsorge der Geschäftsleitung um ihre Mitarbeiter fand in der Errichtung einer Stiftung für Jubilare, Altersrentner und besondere Notfälle ihren Ausdruck. Hierdurch konnte besonders auch in Kriegs- und Krisenzeiten so manche Not gelindert werden. Den Gastreden zu den bereits genannten Einweihungsfeierlichkeiten in 1933 sind folgende Passagen entnommen: „Wenn Heuchelheim den Vorzug vor vielen anderen Orten hat, nicht mit Wirtschaftssorgen und Nöten belastet zu sein, so hat es dies nicht zuletzt diesem Manne Ludwig Rinn zu verdanken, der seinem Heimatort Jahr für Jahr ein groß Teil Arbeit und Brot gibt. Wir wissen, dass Sie eine ungeheure Kraft in Bezug auf Arbeitsleistung und Pflichterfüllung gegenüber sich selbst und Ihrem Werk sind. In Zeiten großer Arbeitslosigkeit haben Sie den Heuchelheimer Arbeitern und Handwerkern Arbeit und Verdienst gegeben.“ Schon bei Würdigung mit der Benennung der „Ludwig-Rinn-Straße“ (vorheriger Name: Sandweg) hatte der Geehrte betont: „ Sie kennen mich, dass ich Ehrungen nicht nachjage.“ Weitere Ehrungen blieben ihm jedoch nicht erspart. Seine Heimatgemeinde Heuchelheim ernannte ihn 1950 an seinem 80. Geburtstag zum Ehrenbürger. Fünf Jahre später wurde ihm das Ehrenbürgerrecht der Stadt Gießen verliehen. Gleichzeitig erhielt Ludwig Rinn die Ehrenplakette des Kreises Wetzlar, eine Auszeichnung, die nach Dr. Leitz erst zum zweiten Male an einen Unternehmer verliehen wurde. Die Universität Gießen, der er als Förderer und langjähriger Präsident der Hochschulgesellschaft stets verbunden war, berief ihn als höchste Auszeichnung zum Ehrensenator. 58 Jahre hat Ludwig Rinn dem Beirat der Industrie- und Handelskammer für die Kreise Gießen, Alsfeld und Lauterbach als aktives Mitglied angehört, davon von 1930 bis 1933 und 1945 bis 1950 als Präsident der Kammer und seit 1950 als Ehrenpräsident. Verdient gemacht hat er sich außerdem um den Bau der vereinseigenen Heuchelheimer Turnhalle und die Förderung des Turnsports.
Als der 2. Weltkrieg zu Ende war, lag ein großer Teil seines Lebenswerkes in Trümmern. Neben einigen Filialfabriken wurde der Zentralbetrieb in Heuchelheim durch Fliegerangriffe im Dezember 1944 zu 80 Prozent zerstört. Zweigbetriebe in der Sowjetzone gingen verloren. Unter der Leitung von Ludwig Rinn begann nach Kriegsende sofort der Wiederaufbau. Anfang der sechziger Jahre waren wieder mehrere Tausend Arbeitskräfte beschäftigt. Ludwig Rinn starb am 30. Okt. 1958 im Alter von 88 Jahren. Nach einer eindrucksvollen Trauerfeier auf dem Werksgelände der Firma Rinn & Cloos bewegte sich ein Trauerzug von über 1000 Menschen hinauf zum Friedhof, wo er in der Familiengrabstätte beigesetzt wurde.
Steffen Rinn präsentiert seine "Don Stefano"
Einer der drei Söhne von Ludwig Rinn, nämlich Karl Ernst Ludwig Rinn, fiel als Offizier bereits 1942 im Russlandfeldzug und konnte somit nicht, wie beabsichtigt, in die Firma einsteigen. Der Nachfolger in der Geschäftsführung, Ludwigs Sohn Hans und dessen Söhne bzw. die Enkel von Ludwig Rinn fanden im Laufe der Zeit sehr viel schlechtere Bedingungen vor. Der Zigarrenkonsum war seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts einer ständigen Talfahrt ausgesetzt. Das Zigarrenrauchen, zu dem allgemein etwas Muse gehört, war in der schnelllebigen Zeit weitgehend aus der Mode gekommen bzw. einem größeren Zigarettenkonsum gewichen. In der Zeit vor dem 2. Weltkrieg waren Zigaretten noch nicht so bekannt. 1991 wurde das Heuchelheimer Unternehmen an die Dannemann-Gruppe verkauft. Alle Geschäfte der Firma Rinn & Cloos waren ordnungsgemäß abgewickelt worden, so dass kein Gläubiger einen Verlust erlitten hatte. Die Firma Dannemann fertigte noch bis Ende März 1993 in Heuchelheim Zigarren und verlegte danach die Produktion nach Treffurt an der Werra in Thüringen. Zurück blieb das ausgedehnte Firmengelände mitten in Heuchelheim in der Ludwig-Rinn-Straße, das von den Firmenerben zunächst an zahlreiche Gewerbetreibende vermietet wurde. Nach dem Verkauf des mehr als 30.000 qm großen ehemaligen Rinn & Cloos Industrie- und Gewerbeparks durch die Eigentümerfamilie in 2011, erwarb Ende 2020 die Gemeinde Heuchelheim zusammen mit einem privaten Investor das Areal. Ein Teil der ehemaligen Rinn & Cloos-Gebäude wird wieder neu zur Zigarrenproduktion genutzt, womit die alte erfolgreiche Tradition wieder auflebt.
Seit der Produktionseinstellung bei Rinn & Cloos war noch kein Jahr vergangen, als Steffen Rinn, der Sohn von Hans Rinn und Enkel des Firmengründers Ludwig Rinn, unter dem Namen bzw. der Marke „Don Stefano“ bereits 1994 wieder begann Zigarren und Zigarillos herzustellen.
Das Geschäft hat sich gut entwickelt und Steffen Rinn, ehemals Vorstandsmitglied der Firma R&C, bietet wieder zahlreichen Arbeitnehmern Arbeit und Brot. Steffen Rinn gilt als Rohtabak-Experte. Seine Kenntnisse als Tabakfachmann und Zigarrenhersteller erwarb er sich im Familienbetrieb unter der Leitung seines Vaters Hans Rinn und des einstigen Betriebsleiters Albert Rinn III. Bereits im Jahre 2001 konnte sich die neue Firma mit der Auszeichnung „Jahressieger der Europäischen Zigarren“ schmücken. Mit dem Sohn von Steffen Rinn ist auch bereits die nächste Generation in die Geschäftsführung integriert.