Vertreibung vor 75 Jahren - Heimat- und Geschichtsverein Heuchelheim-Kinzenbach e.V.

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Vor 75 Jahren waren in Heuchelheim und Kinzenbach rd. 1300 Heimatvertriebene aufzunehmen.

Am 2. August 1945 wurde in Potsdam von den Führern der Siegermächte der sogenannte „Umsiedlungsbeschluss“ gefasst. Damit wurde die Umsiedlung, Flucht und Vertreibung von Menschen gutgeheißen und man meinte, damit auch Minderheitenprobleme aus der Welt zu schaffen. Dabei schlossen sie eine Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen in ihre Herkunftsgebiete aus. Flüchtlinge nannte man diejenigen Menschen, die sich aus den Ostgebieten auf den Weg machten, als sich in 1944 die Niederlage bereits abzeichnete. Viele mussten fast all ihr Hab und Gut zurücklassen und zogen bei Eiseskälte vor der vorrückenden Roten Armeen nach Westen. Nach Kriegsende wurde auch aus der Tschechoslowakei die dort verbliebene deutsche Bevölkerung vertrieben. Oft innerhalb weniger Stunden mussten die Deutschen ihre Häuser verlassen. Sie wurden in Sammellager gebracht, wo sie oft bis zu drei Wochen auf den Abtransport in Viehwaggons warten mussten. Folgenden Wortlaut hatte der „Ausweisungsbefehl“: „Personen, welche für den Abtransport bestimmt sind, haben ihre Wohnung in vollster Ordnung zu verlassen. Gepäck wird für eine Person zugelassen: 1 Gepäckstück von 60 Kg und Handgepäck von höchstens 10 Kg. Die übrigen Sachen sind in der Wohnung an Ort und Stelle zu lassen, z.B. Vorhänge, Teppiche, Tischlampen, Wandspiegel, Waschschüsseln, Teile der Einrichtung, Tischdecken, 2 Handtücher, in Betten Matratzen, Bettlaken und mindestens je ein Kopfkissen und Zudeckbett alles frisch bezogen. Das Gepäck darf nicht in Teppiche oder Überzüge gepackt werden. Wird bei der Kontrolle festgestellt, dass dies nicht beachtet wurde, wird die betreffende Person nicht in den Transport aufgenommen, sondern im Inland auf Arbeit geschickt.“

In einem Erzählcafé des Kulturrings zum Thema Vertreibung berichtete im voll besetzten Ev. Gemeindehaus z. B. die 90-jährige Heuchelheimerin Leni Fritsch: „Am 1. August 1945 morgens kamen drei Tschechen und wiesen mich innerhalb von fünf Minuten aus unserer Wohnung in Karlsbad zusammen mit meinen beiden Kleinkindern von ein und drei Jahren und meiner alten Mutter aus, ohne auch nur das Geringste von unserem Hab und Gut – nicht einmal eine Kinderwindel – mitnehmen zu dürfen.“ Ihr Ehemann war in den letzten Kriegstagen in Berlin gefallen und ihr Vater war kurz vorher bei einem Bombenangriff auf Karlsbad ums Leben gekommen. Zusammengepfercht mit 30 Menschen in einem Viehwaggon landete sie mit ihren Kindern und Mutter schließlich in Gießen. Der tschechoslowakische Präsident Edvard Benes verfügte in einem Dekret die völlige und entschädigungslose Enteignung aller Personen deutscher Nation. In einem weiteren Dekret wurden die an der deutschstämmigen Bevölkerung begangenen Verfolgungen und Verbrechen als rechtmäßig und strafrechtlich für nicht verfolgbar erklärt. Diese Dekrete gelten bis heute, auch nach Aufnahme von Tschechien in die Europäische Union, unverändert weiter.

Ab Februar 1946 kamen dann im Wesentlichen aus dem dortigen Sudetenland die Heimatvertriebenen auch in unserer Region auf den Bahnhöfen Gießen und Wetzlar an und wurden auch auf die Landkreise verteilt. Laut der am Heuchelheimer Heimatmuseum angebrachten Erinnerungstafel fanden nach dem 2. Weltkrieg rd. 1300 Heimatvertriebene Aufnahme in Heuchelheim, davon rd. 900 in Heuchelheim und rd. 400 in Kinzenbach. Dies war gemessen an der damaligen Einwohnerzahl ein Anteil von über 30 %. Im April 1946 fanden auch 11 ungarndeutsche Familien Aufnahme in der damals noch selbständigen Gemeinde Kinzenbach. Ihre Heimat war Zsámbék nordwestlich von Budapest gelegen. Zwischen 1712 u. 1740 hatten sich dort Deutsche aus Schwaben u. Franken angesiedelt.   Aufgrund kriegszerstörter Häuser und Beschlagnahmung von 32 der besteingerichteten Häuser durch die amerikanische Besatzungsmacht war die Wohnungssituation dramatisch und eine große Herausforderung, was naturgemäß auch hier und da zu Spannungen zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Neuankömmlingen führen musste. Nur mittels Zwangseinweisungen oder die Beschlagnahmung von Wohnraum konnte die größte Not gelindert werden. Das feste Statusgefüge der Einheimischen wurde mächtig durcheinandergewirbelt. Der Dialekt der Neubürger war nicht leicht verständlich, Sitten und Gebräuche und die Religion unterschieden sich. Im Auftrag der Gemeinde waren Siedlungshäuser gebaut worden und die Vertriebenen gingen daran, unter gegenseitiger Hilfe für ihren dringenden Wohnbedarf Häuser zu erstellen. Ohne den Fleiß und Aufbauwillen der Flüchtlinge und Vertriebenen hätte der Wiederaufbau der Bundesrepublik nicht so schnell vonstattengehen können. Der Beitrag der Vertriebenen am „Wirtschaftswunder“ ist unbestritten. Die alteingesessene Bevölkerung hatte seit Jahrhunderten eine evangelische Bevölkerung, während die Heimatvertriebenen meist römisch-katholischer Konfession waren. Ab 1946 heirateten zunehmend auch gemischt konfessionelle Paare, was zu Schwierigkeiten mit den konservativ ausgerichteten Kirchen führte. Zwecks Interessenvertretung wurde in 1949 der Bund der Vertriebenen (BdV) gegründet. Für die Ortsgruppe Heuchelheim sind nachstehend die Namen der Vorsitzenden des BdV verzeichnet: Rudolf Christen +, Gustav Schwarzer sen. +, Rudolf Langer +, Rudolf Winter +, Josef Vorstandslechner und Gustav Schwarzer jun.      

Der Weg in die Selbständigkeit war für die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge in der neuen Heimat ungemein schwer. Außer ihrem Wissen und Fleiß konnten sie keine Besitzstände mitbringen, die sie den Banken als Sicherheit für ein Startkapital zur Verfügung stellen konnten. Dennoch haben einige in unserer Gemeinde den Sprung in die Selbständigkeit als Landwirte oder Gewerbetreibende geschafft. Nachstehend eine namentliche Aufzählung ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Josef Klug heiratete in eine Kleinlandwirtschaft ein, siedelte aus und die Familien seines Sohnes Hans und Enkels Thorsten bewirtschaften heute den größten landwirtschaftlichen Betrieb in unserer Gemeinde, Rudolf Höchsmann betrieb ab 1955 ein Taxi- und Busunternehmen, das heute von seinem Sohn Norbert weitergeführt wird., Franz Niekisch gründete bereits 1948 in Kinzenbach eine Gärtnerei, die er seinem Sohn Kurt mit Schwiegertochter Irmgard übergab. Heute wird die Gärtnerei von deren Sohn Kurt Wilhelm in der 3. Generation betrieben, Egon Schwertfeger gründete 1952 seine Bäckerei am Haag, die heute von seinem Sohn Edgar betrieben wird, Karl Simon betrieb ab 1946 in der Bachstr. 39 einen Vieh- und Pferdehandel, der danach von seinem Enkel Harald übernommen wurde und auch heute weiter als Pferdehandel besteht, Kurt Winter eröffnete einen Glasbau- und Fliesenleger-Betrieb, der heute von seinem Sohn Reinhard in der Bachstr. 54 weitergeführt wird, Barbara Habermalz gründete die Biebertal-Apotheke, die danach zunächst vom Sohn Jochen weitergeführt wurde,  Otto und Hedwig Schwarzer betrieben ab 1953 die Gastwirtschaft Abendstern und nebenbei eine Landwirtschaft, die sie in 1972 auf ihren jüngsten Sohn Ernst übertrugen. Die Gastwirtschaft wurde von Hedwig Schwarzer noch bis 2002 betrieben. Ottilie Richter (verehelichte Stein) eröffnete 1953 Ecke Marktstraße/Schulgasse einen Laden für Kolonialwaren und Leihbücherei, der 1956 in die Kinzenbacher Str. 25 verlegt und nach 39 Jahren in 1992 aufgegeben wurde, Herbert Sequenz und Ehefrau Lotte betrieben 25 Jahre lang eine gut gehende Metzgerei in der Wilhelmstr. 9, Schuhmachermeister Wenzel Billek eröffnete 1950 zunächst seine Werkstatt in der Heinestr. 11 und betrieb sie ab 1957 bis Ende der 70er Jahre in der Schillerstr. 48, Günter Landscheck, Sudetenstr. 35, hatte ein Maler- und Weißbindergeschäft, Günther Oth machte sich nach seinem Bauingenieurstudium in 1951 als Architekt selbständig. In seiner langen Tätigkeit hat er eine Vielzahl von Gebäuden für Privatleute, Firmen, Kirchengemeinden und Kommunen konzipiert (fast alle kommunalen Gebäude der Gemeinde Heuchelheim tragen seinen Stempel). Außerdem war er in weitem Umkreis für die Errichtung zahlreicher Stadthallen und Dorfgemeinschaftshäuser verantwortlich.
  
Zum Thema empfehlen wir sehr eine Besichtigung der liebevoll eingerichteten Heimatstube im 1. Stock des Heuchelheimer Heimatmuseums, worin die Erinnerung an die alte Heimat der Vertriebenen und Flüchtlinge wachgehalten wird. Hier kann auch die vom Kulturring Heuchelheim-Kinzenbach herausgegebene 60-seitige, bebilderte Broschüre „Vertreibung, Integration und Neubeginn“ (Dokumentation von Werner Rinn) für € 5 erworben werden.

Die meisten der in den Jahren um 1946 in Heuchelheim und Kinzenbach angekommenen Neubürger sind inzwischen verstorben und die Nachgeborenen fühlen sich meist nicht mehr als Heimatvertriebene. Zweifellos, die Eingliederung von Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen war eine beispiellose Leistung, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Von Flucht und Vertreibung aus den Ostgebieten waren bei Kriegsende rd. 16,5 Mill. Menschen betroffen. Die Vertreibungsverluste betrugen rd. 2,1 Mill., d.h. von den in den Vertreibungsgebieten ansässigen Deutschen ist etwa jeder Achte auf der Flucht bzw. durch Vertreibung umgekommen. Der Zustrom vom Osten war nicht nur Last, sondern auch Gewinn. Die Integration kann als gelungen bezeichnet werden.

Die nachstehenden Bilder zeigen die Vertreibung in Güterwaggons und stellvertretend für die wirtschaftlich selbständigen Neubürger: Pferdehändler Karl Simon mit seinem stolzen Gespann.  


 
 Heimat- und Geschichtsverein Heuchelheim-Kinzenbach e.V. Arbeitskreis Ortsgeschichte

Online seit dem 27.12.2020
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