Vor 75 Jahren: Albert Schmidt wurde im August 1945 zum Bürgermeister ernannt
Die amerikanische Besatzungsmacht hatte nach der Besetzung von Heuchelheim (28.03.1945) den bisherigen Bürgermeister Friedrich Karl Rinn abgesetzt und als kommissarischen Bürgermeister den Bauunternehmer Ludwig Schneider eingesetzt. Unter Ludwig Schneider wurden mit amerikanischer Hilfe und durch Einsatz der Bevölkerung die Bauruinen der bombengeschädigten Gebäude aufgeräumt und die vielen Bombentrichter in den Wiesen und Feldern eingeebnet, damit diese wieder bestellt werden konnten. Da sich Bauunternehmer Ludwig Schneider auch um die zahlreichen Fahrzeuge, Geräte und Baumaschinen seiner Firma kümmern musste, die auf verschiedenen Baustellen im Reichsgebiet waren und die nach Heuchelheim zurückgeführt werden mussten, wollte er den Posten als Bürgermeister abgeben. Als Albert Schmidt, der bereits am 1. Weltkrieg teilnehmen musste, im Juli 1945 aus englischer Kriegsgefangenschaft nach Heuchelheim zurückkehrte, wurde ihm das Bürgermeisteramt angetragen und es gelang nur mit vereintem Zureden, seinen Widerstand gegen die Amtsübernahme zu überwinden. Im August 1945 wurde Albert Schmidt, der am 31.07.1892 geboren war, vom Gießener Landrat Dr. Wagenbach zum ehrenamtlichen Bürgermeister der Gemeinde Heuchelheim ernannt. Illusionslos trat er seinen Dienst an. Er war zuversichtlich, die Unterstützung seiner Mitbürger und vor allem der Gemeindevertretung zu haben. Er war vom ersten Tag darauf bedacht, so gerecht wie möglich sein Amt auszuführen und vor allem die Bürgerschaft, die sich ja durch das totalitäre Naziregime zum Teil schon innerhalb der Familien auseinandergelebt hatte, zu einigen. Schon hier deutete es sich an, was seine gesamte Amtsführung auszeichnetet: die Kraft seiner Persönlichkeit mit Weitsicht und Toleranz, bei der das Wohl der Gemeinde schwerer wog als Partei-Politik. In seiner langen Amtsführung von über 16 Jahren - bis Juni 1952 ehrenamtlich, danach hauptamtlich - türmten sich die Schwierigkeiten der Nachkriegszeit. Albert Schmidt ging sie an.
Über Einzelheiten hören wir ihn selbst (aus seinem Zehnjahresbericht von 1955): „Unser Dorf hatte durch den Bombenkrieg erheblich gelitten. 10 Wohnhäuser waren total zerstört, 6 stark beschädigt und unbewohnbar und ein ganzer Teil hatte leichtere Schäden erlitten. Unsere alteingesessene Industrie, die Zigarrenfabrik Rinn & Cloos, war schwer getroffen worden. Ein Glück war, dass die übrige Industrie in Richtung Abendstern lag und heil davon gekommen war. Ein weiteres Glück war, dass die in der Feldmark niedergegangenen Bomben unser Dorf verfehlt hatten. Mein Amtsvorgänger, Bauunternehmer Ludwig Schneider, der in den ersten Monaten nach dem Zusammenbruch die Geschäfte führte, hatte schon ein großes Stück Arbeit geleistet, als ich mein Amt antrat. Alle Schwierigkeiten wurden im Laufe der Zeit überwunden, so dass der Wiederaufbau aller zerstörten Häuser und Scheunen am Tag X, am 20. Juni 1948, dem Tag der Währungsreform, fast restlos beendet war. Um diese Leistung zu würdigen, muss man sich an den Materialmangel jener Tage erinnern. Selbst den Wiederaufbau des Feuerwehrgerätehauses (Kreuzgasse 1, das durch Bombentreffer zerstört war) hatte das Staatsbauamt mehrfach abgelehnt. Der leider früh (1947) verstorbene Fabrikant Ludwig Schunk sagte Albert Schmidt damals bei der ersten Zusammenkunft: „Nur die Energie, mit der die ganze Heuchelheimer Bevölkerung unmittelbar nach dem Einmarsch der Amerikaner an den Wiederaufbau gegangen ist, hat mir neuen Mut gegeben, nochmals an eine bessere Zukunft unseres Volkes zu glauben.“ Leider hat Ludwig Schunk den Aufstieg seines Werkes zu seiner heutigen Größe nicht mehr miterlebt. Die Notstände der Gemeinde waren unübersehbar. Hilfsmittel standen nur begrenzt zur Verfügung. Umso wichtiger war die Fähigkeit der Improvisation. Da war zunächst die Zwangswirtschaft aller Bedarfs- und Lebensmittel. Oft kam es vor, dass für das tägliche Brot weder Mehl noch Heizmaterial (zum Backen in den damaligen Backhäusern) vorhanden waren. Albert Schmidt weiter: „Dabei waren wir in der amerikanischen Zone immer noch besser gestellt als die Bewohner der britischen und französischen Zone, ganz zu schweigen von der russischen (sowjetischen) Zone. Es verging damals kein Tag, an dem nicht Menschen, sogar bis aus dem Siegerland, erschienen, um etwas Essbares zu ergattern. 1946/47 wurde es ganz schlimm. Die Fettration betrug pro Kopf und Woche nur noch 50 Gramm, wie alle Lebensmittel in Gramm zugeteilt wurden. Besondere Schwierigkeiten machten die Bezugsscheine für Schuhe und Kleidung, denn eine gerechte Verteilung war unmöglich. Die Einführung der Kleiderkarte brachte eine gewisse Erleichterung, da sie jedem eine gewisse Anzahl Punkte zugestand, doch damit war der Mangel nicht behoben. Ein ganz besonders trübes Kapitel lag in der Unterbringung all derer, die auf Wanderschaft waren und zum Teil ihre Familien suchten, teils aber auch allen Grund hatten, noch nicht sesshaft zu werden. Bis zum Herbst 1945 wurden in der alten Schule (am Haag) zwei Säle zur notdürftigen Unterbringung und Verpflegung durchreisender Soldaten und Zivilpersonen hergerichtet. Ich musste jedoch im Herbst 1945 bei dem damaligen Landrat Dr. Wagenbach die Schließung dieser Unterkunft beantragen, da sich Zustände herausgebildet hatten, die nicht länger tragbar waren.“
Die Schulen in der Gartenstraße (heute Jahnstraße) und Wilhelmstraße waren von amerikanischen Truppen belegt. So stand nur in der alten Schule am Haag ein Schulsaal, notdürftig hergerichtet, zur Verfügung. Bei Freigabe durch die Besatzungsmacht Anfang 1946 waren alle Schulräume in desolatem Zustand. Doch auch nach der Räumung konnte die Schule nicht sofort ihrem eigentlichen Zweck zugeführt werden, denn zu Ostern 1946 trafen die ersten Flüchtlinge (Heimatvertriebenen) ein. Im Oktober 1946 kam der letzte Flüchtlingstransport. Etliche Familien mussten zusammen den Winter notgedrungen in den Schulsälen verbringen. Allmählich besserten sich die Zustände. Zuerst wurde die Rote Schule in der Gartenstraße (jetzt Jahnstraße) frei. Diese Schule wurde 1972 abgerissen. Heute befinden sich dort Parkplätze gegenüber der Volksbank. Die Unterbringung der Flüchtlinge (Heimatvertriebenen) war besonders schwierig, da mehr als 40 Wohnhäuser von den amerikanischen Besatzungstruppen beschlagnahmt waren. Vorübergehend mussten ihre einheimischen Bewohner mehrmals aus- bzw. einziehen. Bis zum 30. Juli 1947 wurden durch den damaligen Ortskommandanten in Gießen 32 Häuser, das Mühlchen und die Turnhalle endgültig beschlagnahmt. 17 Wohnungen waren im August 1955 noch in Händen der Besatzungsmacht. Es gelang die Turnhalle 1947 freizubekommen, doch sie war total verwahrlost, ebenso der Sportplatz (Geiersberg), auf dem jahrelang schwere amerikanische Armeefahrzeuge geparkt hatten. Der Übergang von 1947 bis zur Jahresmitte 1948 war wohl am Allerschlimmsten, denn niemand wollte für das damalige Geld etwas abgeben, was nach seinen Begriffen noch wertvoller war als die Reichsmark. Als dann an jenem denkwürdigen Freitag der Rundfunk die Währungsreform bekanntgab, und die Bevölkerung am Sonntag, dem 20. Juni 1948, die ersten 40 DM pro Kopf erhielt, für die man schon am nächsten Tag gewisse Dinge kaufen konnte, die man so lange entbehrt hatte, ging ein erleichtertes Aufatmen durch die Bevölkerung. Zwar bestand die Rationierung und Bewirtschaftung noch weiter, wurde aber immer weniger beachtet. Was die Gemeindekasse angeht, so war sie damals leer. Alle Ersparnisse, Rücklagen und sonstigen Reserven waren durch die Währungsreform gestrichen worden. Erst nach einigen Tagen erhielt die Gemeinde, wie alle übrigen Kommunen, eine sogenannte Erstausstattung, deren Höhe nach einem besonderen Schlüssel ermittelt worden war. Die Summe betrug 24.000 DM, von der man nicht wusste, ob sie nicht eines Tages zurückgefordert werden würde.
Das Leben normalisierte sich weiter. Die Wirtschaft belebte sich, Steuern gingen ein. Eine ganz neue Industrie, das Kleinstkamera-Werk MINOX, kam im Herbst 1948 nach Heuchelheim. Auch bei der Firma Schunk & Ebe ging es aufwärts. Unüberwindbar erschien dagegen die Wohnungsnot. Die Aufstellung zweier Baracken, die man von Firmen erworben hatte, war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. So ging man daran, gemeindeeigene Wohnhäuser zu errichten. 1949 das erste Sechsfamilienwohnhaus in der Kinzenbacher Straße. Gleichzeitig wurde Gelände am Linnpfad (heute Sudetenstraße) erworben und zu Erbbauplätzen vermessen. Schließlich wurde der gesamte Linnpfad als Baugelände ausgewiesen. 1951 folgte das zweite Wohnhaus an der Kinzenbacher Straße. Im nächsten Jahr folgten drei weitere Sechsfamilienhäuser für Besatzungsverdrängte. 1954 erstand das vierte in diesem Programm. Landesbaudarlehen und Bankdarlehen halfen. Zu den Wohnungsbauten kam die Erneuerung zahlreicher Straßen. 1953 folgte die Sportplatzanlage als Stadion auf dem Geiersberg. Im gleichen Jahr konnte der Schulbetrieb im Saal des Gasthauses „Zum Schwanen“ beendet werden. Ein moderner Kindergarten in den Gässergärten (heute KITA Sonnenhaus) konnte im Jahre 1959 in Anwesenheit von Innenminister Heinrich Schneider und der Gattin des hessischen Ministerpräsidenten Dr. August Zinn eingeweiht werden. Die Kanalisation des südwestlichen Dorfzentrums wurde vorgenommen und mit der Friedhofserweiterung wurde begonnen. Zahllose Einzelvorhaben und Erschließungen von Wohnbau- und Industriegebieten ergänzten den Wiederaufbau. Der ehemalige Heuchelheimer „Bieberlies“- Bahnhof und der alte Friedhof wurden zu Grünanlagen (Parks) umgestaltet. Der Bau der Friedhofskapelle wurde in Angriff genommen.
Am 30. Januar 1962 war es soweit, die Amtsperiode von Albert Schmidt war abgelaufen. Ein hochverdienter Bürgermeister wurde verabschiedet und der Nachfolger Otto Bepler eingeführt. Das Bundesverdienstkreuz, das drei Monate später überreicht wurde, wurde einem Würdigen verliehen. Bürgermeister Albert Schmidt verstarb am 24. April 1966 und wohnte zuletzt auf dem Geiersberg im Haus Heinestraße 27, nachdem er zusammen mit seiner Frau Wilhelmine aus dem langjährig bewohnten Haus Bachstr. 62 dorthin gezogen war. Am Süd- und Südwesthang des Geiersberges war zuvor im August 1964 die neue Wilhelm-Leuschner-Schule mit Schulturnhalle eingeweiht worden, die derzeit gerade saniert wird. Die Gemeinde Heuchelheim hat im Neubaugebiet „Bölz“ eine Straße nach dem verdienten Altbürgermeister „Albert Schmidt“ benannt.
Quelle: Neuauflage der Heuchelheimer Ortschronik „Heuchelheim bei Gießen - Geschichte eines Dorfes im Lahnbogen“ von Dr. Konrad Reidt, neu bearbeitet von Ehrenbürger und Altbürgermeister Otto Bepler. (Kulturring Heuchelheim-Kinzenbach e.V. / Arbeitskreis Ortsgeschichte)